Südafrika
Auf Tuchfühlung mit Dick- und Dünnhäutern
September 21, 2015
Erste Station nach Kapstadt war Hermanus, der nach eigener Aussage „weltbeste Ort, um Wale von Land aus zu beobachten.“ Hermanus liegt an einer geschützten Bucht, wodurch die Wassertemperatur höher ist und jedes Jahr im August und September viele Wale und Delfine dorthin kommen, um ihre Jungen zu gebären. Vor Ort gibt es einen Küstenwanderweg, von dem aus man laut unserem Parkplatzwächter „very good chances“ hat, Wale zu sehen. Praktisch sah das dann so aus, dass uns nach 15 Minuten intensiven Starrens erst die Augen wehzutun begannen und wir dann leicht paranoid wurden und hinter jeder noch so kleinen Unregelmäßigkeit in 300 Metern Entfernung einen Wal vermuteten. Später haben wir von Einheimischen erfahren, dass, wenn Wale da sind, diese tatsächlich in unmittelbarer Küstennähe auftauchen, sodass man sie eindeutig sieht. Wir hatten also einfach Pech…
Aber wenigstens nahm der Tag noch ein gutes Ende, als wir bei unseren ersten Couchsurfing-Hosts ankamen: Ein älteres Ehepaar mit einer kleinen Farm im Nirgendwo, die letzten 15 km waren unbefestigt und in teils abenteuerlichem Zustand, gerade mit einem Auto ohne Allradantrieb. Auf der Farm betreiben die beiden eine kleine Fabrik, in der sie die Rohstoffe für zahlreiche Homöopathika für den europäischen und US-amerikanischen Markt aufbereiten. Kersten, der Mann, ist studierter Botaniker und sucht in mehreren Ländern des südlichen Afrika die wild wachsenden Pflanzen. Anschließend schließt er Verträge mit alleinstehenden Frauen vor Ort ab, die die Pflanzen/Wurzeln nachhaltig für ihn sammeln. In seiner Fabrik werden die Rohstoffe dann gereinigt, gehäckselt und getrocknet und an den Hersteller geliefert. So läuft fast die ganze Weltproduktion des Umckaloabo-Rohstoffs (Pelargonium-Wurzeln) über ihn (ca. 80 Tonnen/Jahr). Nebenbei hat er noch mehrere Hektar Weinberge und stellt seinen eigenen Wein her.
Auch am nächsten Abend waren wir zu Gast bei einem Couchsurfer (mit dem schönen Namen Alexander von Brandenstein). Alex lebt in einem Holzhaus an einem Fluss in einem der wenigen (Ur-)Wälder Südafrikas an der bei Tourist*innen beliebten Garden Route. In dem Wald leben einige der letzten frei lebenden Elefanten des Landes und im Garten turnten bei unserer Abfahrt mehrere Paviane durch die Bäume. Als wir ankamen, fanden wir vor der Tür als Geschenk seiner Katze eine tote Baumschlange, deren Biss ohne Antiserum in relativ kurzer Zeit zum Tod führt. Ihre Giftzähne liegen ganz hinten im Mund, allerdings kann sie diesen bis zu 170° öffnen, sodass sie einem Menschen mit jedem Biss gefährlich werden kann. Auf alle Fälle ein etwas anderes Wildlife-Erlebnis als in einem deutschen Vorgarten. Am nächsten Morgen zeigte er uns noch eine Farm, auf der er ehrenamtlich arbeitet und auf der sozial benachteiligten Jugendlichen aus den umliegenden townships kostenfrei eine handwerkliche Ausbildung ermöglicht wird.
Richtig spannend wurde es übernachtungstechnisch dann aber am darauffolgenden Abend: Erneut hatten wir einen Host über Couchsurfing gefunden, und zwar beim Gründer und Betreiber des Unjani Arthouse, einem Künster*innentreff mit angeschlossener Backpacker-Lodge im township von Plettenberg Bay. Als wir dort ankamen, war er selbst allerdings nicht da, sondern nur ein junger Mann unseren Alters, der das ansonsten leere Haus hüten sollte und von unserer Ankunft genauso überrascht war wie wir von unserer Umgebung. War dann aber auch überhaupt kein Problem, er lud uns gleich ein, uns eines der vier freien Zimmer auszusuchen. Kurz darauf schauten einige seiner Freunde vorbei, da sie für den Abend eine kleine House-Party in unserer Unterkunft geplant hatten (House-Musik ist nach ihrer Aussage derzeit die angesagteste Musik in Südafrika). Erklärend sei hinzugefügt, dass es hier solche und solche townships gibt – manche bestehen zum Großteil aus einfachsten Wellblechhütten ohne fließend Wasser und Elektrizität. Doch in dem, in dem wir übernachteten, waren die Häuser zwar auch einfach, aber immerhin solide gemauert, es gab Elektrizität und am Toilettenhäuschen im Garten auch fließendes (Trink-)Wasser. Township heißt also nicht automatisch Elend – die vier Jungs, mit denen wir dann den Abend verbrachten, waren jedenfalls schicker gekleidet als wir 🙂
Am nächsten Morgen machten sie dann noch einen ausgedehnten Spaziergang mit uns durch die Siedlung („This is the barber. That’s where we buy our weed.“). Als wir darüber sprachen, was sie tagsüber normalerweise so machen, stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen arbeitslos sind und auch keine ausreichenden Qualifikationen haben, um gute Aussichten auf einen Job zu haben. Was mich aber am meisten irritierte, war, dass sie mit ihrer Gesamtsituation nicht unzufrieden zu sein schienen bzw. keinen Ehrgeiz zeigten, daraus aus eigenem Antrieb einen Ausweg zu finden. Solange noch etwas Geld für Alkohol und Gras da ist, ist alles halb so schlimm.
Nach kurzem Zwischenstopp in Port Elizabeth und unserer ersten Safari im Addo Elephant National Park verließen wir die für den Massentourismus erschlossene Garden Route und wandten uns der Wild Coast zu. Dieser Küstenabschnitt in der Provinz Eastern Cape gilt als einer der schönsten Südafrikas, ist aber gleichzeitig aufgrund seiner schlechten Zugänglichkeit nicht so von Tourist*innen überlaufen wie die Region rund um Kapstadt (oder um es mit den Worten unserer ersten Couchsurfing-Hosts auszudrücken: „There you’ll see the real Africa“ – was auch immer „das echte Afrika“ sein soll). Schlechte Zugänglichkeit hieß in unserem Falle, dass wir für die letzten 40 km zu unserer Unterkunft fast 2 Stunden brauchten, da es ständig bergauf und –ab ging und vor allem, weil die unbefestigte Straße der Bezeichnung „Straße“ oftmals nicht wirklich gerecht wurde (was uns entgegenkommende Fahrzeuge, wie z.B. einen bedenklich schwankenden Bierlaster, nicht davon abhielt, an uns ohne abzubremsen mit minimalem Abstand vorbeizurasen).
Doch sobald wir am Ziel, der Bulungula Lodge, angekommen waren, wussten wir, dass sich die Mühen gelohnt hatten: Die Lodge wurde zwar vor über zehn Jahren von einem Kapstädter gegründet, gehört inzwischen aber zum Großteil der lokalen Xhosa-Community und beschäftigt über 20 Dorfbewohner*innen (Xhosa ist einer der großen Volksstämme Südafrikas mit einer sehr interessanten Sprache, die Klicklaute enthält, Beispiel hier). Auch alle Aktivitäten in und um die Lodge herum werden von Leuten aus dem Dorf durchgeführt, sodass praktisch alles Geld, was Tourist*innen in der Lodge lassen, im Dorf bleibt. Neben sozialem Engagement hat sich die Lodge auch der Ökologie verschrieben: Sie wird komplett mit Solar- und Windstrom versorgt (das Dorf ist noch nicht ans Stromnetz angeschlossen), es gibt Komposttoiletten und „Raketenduschen“ (ein senkrechtes Rohr, in dessen unteres Ende man vor jedem Duschen eine kleine Menge Paraffin einfüllen und dieses anzünden muss, um dann warmes Wasser für 5-7 Minuten zu haben). Zudem ist die Lodge sehr hübsch an einer Flussmündung und endlosen Sandstränden gelegen.
Los ging es am nächsten Morgen bereits zu Sonnenaufgang, zu dem Frauen aus dem Dorf Pancakes am Strand servierten. Der Sonnenaufgang wurde durch die ein oder andere Wolke zwar etwas relativiert, aber schön war es trotzdem. Später besuchten wir den herbalist, den Pflanzenkundigen des Dorfes, der aber auch überregional bekannt ist. Er erklärte uns exemplarisch ein paar seiner beeindruckend vielen Pülverchen und Tinkturen, die nicht nur gegen körperliche Beschwerden helfen sollen, sondern auch bei Problemen wie vermuteter Untreue des Partners oder unerfülltem Kinderwunsch. Ein paar der verwendeten Pflanzen zeigte er uns anschließend noch in einem nahe gelegenen Waldstück und auf einer Wiese. Am zweiten Tag paddelten wir einen Fluss hinauf, der durch dichten (Ur-?)Wald führt und an dessen Ufer wir einen ca. 50 cm großen Leguan sitzen sahen (bzw. genauer gesagt hätten wir ihn wohl übersehen, aber zum Glück hatten wir einen Guide dabei). Das Leben und den Alltag im Dorf lernten wir ein bisschen bei einer guided village tour kennen.
Dabei trat eine recht starke Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zutage, was die Arbeitsbelastung angeht: Aufgabe der Frauen ist es, Feuerholz in den umliegenden Wäldern zu sammeln, zu kochen, die Kinder großzuziehen, zu waschen etc. – also alles Aufgaben, die mehr oder minder täglich anfallen. Auf die Frage, was denn dann noch für die Männer übrig bliebe, hieß es: Zäune reparieren, ein bisschen Feldarbeit, Häuser bauen (wobei die Schlammziegel dafür von Frauen geformt werden) – also Aufgaben, die im Normalfall nicht ständig anfallen. Manche versuchen ihr Glück, in der nächsten Stadt eine Arbeit zu finden, doch Jobs sind Mangelware und so sieht man Männer in den Dörfern viel rumsitzen, während die Frauen fast immer beschäftigt sind.
Ein weiteres Problem, das die Jobsuche für viele Männer erschwert, ist ihre geringe oder nicht vorhandene Qualifikation. Im Dorf selbst gibt es zwar eine Grundschule, für die secondary school müssen die Kinder aber schon über eineinhalb Stunden laufen und die High School ist in der nächsten großen Stadt, die drei Auto-Stunden entfernt ist. So brechen viele Jugendliche die Schule schon während der secondary school ab, weil sie irgendwann keine Lust mehr haben, jeden Tag drei Stunden zu laufen. Und dazu ist die Qualität der Bildung nicht immer zufriedenstellend, zum Beispiel wird im verpflichtenden Englischunterricht von den meisten Lehrkräften oft Xhosa gesprochen, sodass die Jugendlichen im Dorf nur wenige Brocken Englisch können.
Oft wurden Tina und ich gefragt, ob wir verheiratet seien und wie viele Kinder wir denn schon hätten 🙂 In ihrer Kultur wird früh geheiratet und mit Anfang 20 bekommen die meisten Frauen das erste Kind. Wobei Heiraten gerade aus Sicht des Mannes alles andere als ein Selbstläufer ist: Zunächst muss er die Erlaubnis des Vaters seiner Angebeteten einholen, anschließend beginnen die Verhandlungen über die Mitgift. Standard“preis“ sind zehn Kühe, wobei eine Kuh auch durch zehn Schafe ersetzt werden kann (à la Siedler von Cátan). Schweine können nicht als Zahlungsmittel eingesetzt werden, die werden nur gegessen. Bei einem Preis für eine Kuh von ca. 8000 Rand (um die 550 €), ist das doch eine stattliche Summe, die man als junger Mann erst einmal aufbringen muss.
Nach drei Tagen Idylle fern von Mobilfunk und Internet brachen wir schweren Herzens auf und landeten acht Stunden Fahrt später im exakten Gegenteil: dem hektischen und schnellen Durban (das zwar nur die drittgrößte Stadt des Landes ist, aber immer noch so viele Einwohner*innen hat wie Berlin). Auch hier hatten wir wieder einen sehr netten Couchsurfer um die 40 gefunden, der uns in seinem stilvoll eingerichteten Stadthaus in guter Lage empfing. Am Abend nahm er uns gleich mit Freunden zu einem drumming circle in einer Bar mit. In der Bar waren mehrere Bänke zu einem großen Kreis aufgestellt, in dem zehn bis 15 Leute mit allen möglichen Trommeln, zumeist Djemben, saßen. Das ganze lief dann im Prinzip wie bei einer Jam Session ab: Es gab einen Trommler, der zu Beginn einen Rhythmus vorgab, nach wenigen Sekunden stiegen dann alle anderen mit ihren eigenen ein, die aber alle zum Anfangs-Rhythmus passten. Dadurch entstand ein unglaublich kraftvoller Trommelsturm, der mich mehrere Stunden in seinen Bann zog. Dazu tanzten im Innern des Kreises zwei Ghanaer, die ich danach noch ein bisschen kennenlernte, einen sehr gut auf die Rhythmen abgestimmten Tanz. Sowohl Trommeln wie auch Tanzfläche waren aber offen für alle, sodass die Besetzung ständig wechselte.
Am nächsten Tag machten wir uns zum Victoria Street Market auf, einem gigantischen, in mehreren Straßenzügen und Hallen und auf zwei Ebenen täglich stattfindenden Markt, auf dem man gefühlt alles kaufen kann, von Obst und Gemüse über Kleidung, DVDs, Schmuck, Souvenirs hin zu Heilpflanzen und Kunst. Viele der Stände werden von Inder*innen betrieben: Durban ist die Stadt mit der größten indischen Bevölkerung außerhalb Indiens. Im 19. Jahrhundert kamen diese mal mehr, mal weniger freiwillig in die Provinz, um vor allem in den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Auch Gandhi kam als junger Anwalt nach Durban und begann dort seinen gewaltfreien Widerstand, als er einen Zug benutzte, der nur für Weiße gedacht war.
Nach der Ruhe und Abgeschiedenheit der Tage zuvor waren wir von dem hektischen Markt-Treiben und den Menschenmassen etwas überfordert. Zum Glück lernten wir schnell Charles, einen jungen Künstler aus Zimbabwe kennen, der auf dem Markt seine Figuren aus Draht und Perlen verkauft. Er ist wie viele andere junge Zimbabwer*innen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation und der Mugabe-Diktatur in seinem Heimatland nach Südafrika gekommen und muss sich dort mit einer Tätigkeit durchschlagen, die seiner Qualifikation nicht gerecht wird. Da das Bildungssystem in Zimbabwe wesentlich besser ist als in Südafrika, finden sie leichter Jobs als südafrikanische Schwarze, was diese ihnen (irgendwo aus der Perspektive der Südafrikaner*innen auch ein bisschen nachvollziehbarerweise) übel nehmen. Gegipfelt ist diese Problematik vor einigen Monaten in xenophoben Übergriffen in Vororten von Durban, bei denen mehrere Menschen auf offener Straße von einem wütenden Mob gelyncht und mehrere Hundert aus ihren Häusern vertrieben wurden. Charles war in dem Moment zum Glück gerade in Zimbabwe, aber er meint, dass es Stadtviertel gibt, wo er nicht hingehen könne, weil er sonst um sein Leben fürchten müsse.
Nachmittags folgte ein etwas bizarrer geführter Spaziergang durch die Innenstadt zum Thema „Orientalische Einflüsse in Durban“. Im Programm war zum Beispiel von Gandhis Leben und Wirken in Durban die Rolle, was dann praktisch so aussah, dass wir zu einer Infotafel über Gandhi geführt wurden und diese lesen sollten („Read this!“), bevor wir ohne weiteren Kommentar weitergingen. Für den Rest der Tour führte der Guide uns dann von einem Marktstand zum nächsten oder anders ausgedrückt von einem Kumpel zum nächsten („You don’t need to buy there. But they are the cheapest in town, I want to protect you from the expensive ones…“). Aber immerhin bekamen wir noch ein paar Einblicke in die Zulu-Kultur, da der Guide diesem Stamm angehört. Heiraten etwa läuft prinzipiell ähnlich ab wie bei den Xhosa, allerdings kauft man normalerweise schon für die Preis-Verhandlungen einen Mantel für den Vater und große Kochtöpfe (um die 100 L) für die Mutter, damit sie das Festessen für die ganze Community kochen kann. Und der Standard-Brautpreis ist mit elf Kühen auch etwas höher als bei den Xhosa.
Abends waren wir dann wieder mit Kevin, unserem Host, und seinen Freund*innen unterwegs. Diesmal ging es in einen Jazzclub, der in einer Hafenstraße liegt, die eigentlich für Sex workers und Drogendealer bekannt ist. Die Gebäude rund um den Club sind alle halb eingefallen, was den Kontrast zum Publikum der Bar noch erhöht: Ohne Anzug kam ich mir schon etwas under-dressed vor, ein guter Teil der Gäste schien der wohlhabenden Oberschicht anzugehören. Angenehm überrascht war ich, dass das Publikum nicht wie zum Beispiel in Bloemfontein bei vergleichbaren Veranstaltungen überwiegend weiß war, sondern bunt gemischt aus Schwarzen, Weißen und Indians. Wie auch schon am Vorabend wurden wir laufend von anderen Gästen auf Getränke eingeladen und beim Anstoßen recht vehement dazu aufgefordert: „You must enjoy South Africa!!!“ Besonders aufdringlich wurde in der Jazz-Bar ein schwarzer Neureicher, der anderen Gästen schon als „The Amarula-Man“ bekannt war, weil er Flasche für Flasche bestellte und fleißig alle Leute an seinem Tisch damit abfüllte, während er stolz auf seinem Smartphone Bilder des Oldtimers herumzeigte, den er bald kaufen würde.